
Interview mit Michael Klevenhaus
„Lieder hängen zwischen allen Stühlen. Traditionelle Lieder, aus denen klassische Lieder gemacht wurden„
Juni 2021
Der Schauspieler und Sänger Michael Klevenhaus vermittelt seit über 25 Jahren gälische Sprache. Die traditionellen Lieder, die von zarter Melancholie bis hin zu aufregenden Rhythmen reichen, sind tief verwurzelt in der Minderheiten-Kultur. Worum es in gälischen Liedern geht, wieso man sich mit dem Begriff „Volkslieder“ schnell die Finger verbrennt und was eigentlich Beethoven mit den Gälen zu tun hatte, verriet der Künstler im Interview mit Barbara Franke.
Herr Klevenhaus, Sie haben als erster Deutscher an der „University of The Highlands and Islands“ in Schottland Ihren Master in Gälisch abgeschlossen, 2002 das Deutsche Zentrum für Gälische Kultur und Sprache in Bonn gegründet, sind Korrespondent für den Gälischen Rundfunk der BBC, schreiben gälische Kurzgeschichten und singen gälische Lieder. Woher kommt Ihre Faszination für das gälische Volk?
Angefangen hat alles, und wie könnte das auch anders sein, durch die Musik. In meiner Jugend, das war 1975, war ich auf dem „2nd Irish Folk Festival On Tour“ in der Godesberger Stadthalle in Bonn, da hat unter anderem „Clannad“ gesungen. Ich war damals dermaßen fasziniert von dem Klang der irisch-gälischen Sprache und der Lieder, dass ich sie unbedingt sofort lernen wollte. Geklappt hat das natürlich erst 20 Jahre später. Mein Erst-Beruf ist Schauspieler, und als ich mit einer Kollegin bei einer Weiterbildung über Sprachkurse gesprochen habe, kam das Thema Gälisch wieder auf den Tisch. In den 90er Jahren habe ich also tatsächlich einen Sommerkurs belegt und daraus ist das geworden, was Sie alles aufgezählt haben.
Direkt einmal aus kulturhistorischer Sicht: Ab 1750 wurden die Gälen in brutalen Säuberungsaktionen aus dem schottischen Hochland vertrieben. Sprache und Kultur wurden dabei fast ausgelöscht. Was davon ist insbesondere im Hinblick auf die traditionellen Lieder der Gälen übriggeblieben und wie wertvoll ist das?
Richtig, bei den sogenannten „Highland Clearances“ wurde das schottische Hochland neu aufgeteilt, also zum Beispiel Jagdreviere daraus gemacht, weshalb viele Gälen in große Städte oder direkt in andere Länder vertrieben wurden. Insofern kann man schon von einer ethnischen Säuberung sprechen und damit geht natürlich immer ein Kulturverlust einher. Heute ist das Hochland nur noch sehr dünn besiedelt, die Ortschaften tragen aber immer noch gälische Namen. Gott sei Dank ist auch sehr viel von der Musik und dadurch auch die Sprache erhalten geblieben, weil man zur gleichen Zeit losging um in Schottland Melodien zu sammeln und daraus Nationalmusik zu erarbeiten. Politisch steht das natürlich in einem Widerspruch zueinander, weshalb ich Nationalmusik auch in anderen Kulturen immer mit Vorsicht und Respekt betrachte. In Schottland ist das aber im Hinblick auf die Clearances extrem.
Wie wertvoll ist das Kulturerbe der Gälen dann für uns Europäer?
Gälisch ist die älteste Schriftsprache, die wir in Europa haben, neben dem Lateinischen. Das weiß so gut wie niemand. Es gibt eine ungebrochene Literaturtradition, die bis ins 5. Jahrhundert zurückgeht und sehr vielfältig ist. Hauptsächlich besteht diese Literatur natürlich aus Gedichten, ab dem 18. Jahrhundert existiert aber auch Prosa, Lieder spielen eine zentrale Rolle. Die Schriftkultur ist demnach sehr reich. Das allein macht die Kultur natürlich schon wertvoll, wir können sie lesen und hören. Und das hatte auch großen Einfluss auf unsere Kultur in Europa, auch wenn das zum Teil mit seltsamen Dingen einher ging. Aber nehmen Sie zum Beispiel einmal die ossianischen Gesänge. Goethe hat Ossian gelesen, das war definitiv ein Auslöser für Sturm und Drang. Schubert hat Lieder mit ossianischen Themen komponiert. Beethoven wollte sogar möglicherweise eine ossianische Oper schreiben. Jetzt wissen wir heute aber auch, dass der Dichter Ossian gefaked war und sich der Autor James McPherson fast alles ausgedacht hatte. Trotzdem war „Ossian“ ein Welterfolg, alle haben geglaubt, das sei so passiert. Das hat in der Romantik für Furore gesorgt und natürlich auch einen irrsinnigen Einfluss auf das Kunstlied gehabt.
Meinen Sie das mit den “seltsamen Dingen”, die Sie gerade angesprochen haben?
Ja. Es gibt aber auch andere Beispiele. Ich habe an der Uni Koblenz zu den gälischen Vorlagen der schottischen Lieder von Beethoven geforscht. Wie die zu Beethoven gekommen sind, ist kurios. Der schottische Enthusiast George Thomson, der zu der Zeit in Edinburgh saß, war fasziniert von der klassischen Musik in Europa, speziell von der italienischen Musik, hatte aber gleichzeitig eine Vorliebe für Nationalmusik. Josef Haydn hat damals für ihn komponiert, heißt gälische Melodien von ihm bekommen und daraus klassische [europäische] Lieder gemacht. Als er älter wurde und nicht mehr komponieren konnte, hatte sich Thomson an Beethoven gewandt. Beethoven wollte fürs Komponieren aber auch die ursprünglichen Liedtexte, die ihm Thomson verweigerte, weil er eigene Dichter für neue Texte engagiert hatte. Also auch eine Art musikalischer Wechselbalg: Ich nehme eine gälische Melodie, lasse dabei aber die gälische Sprache weg, schicke demnach die nackte Melodie nach Wien und lasse diese Beethoven bearbeiten. Der schickt sie zurück und dann kommt jemand Neues wie der Dichter Sir Walter Scott und macht neue Texte drauf. Das geht aber noch weiter: Beethovens Werk war Thomson am Ende viel zu kompliziert, denn der wollte Beethoven als Hausmusik – also für den Laien gemacht – verkaufen. Auf Änderungen wollte der Komponist sich aber nicht einlassen, also ist Thomson hingegangen und hat selber geändert. Das muss man sich heute mal reintun: Dass also jemand hingeht und Beethoven ändert. Wo sie da im Hinblick auf die gälischen Lieder reinpacken, da ist immer irgendwas nicht stimmig beziehungsweise schlichtweg falsch.
In der Fernseh-Dokumentation „Orain – Das Geheimnis um Beethovens schottische Lieder“ in Zusammenarbeit mit dem WDR und Arte sind Sie ja auch auf Spurensuche gegangen.
Das Ganze ist tatsächlich ein bisschen wie ein Krimi. Ich brauchte ein Forschungsprojekt für meine Doktorarbeit an der Uni Koblenz und bei einem Gespräch mit zwei bekannten Filmemacherinnen aus Glasgow ist die Beethoven-Idee aufgeploppt. Mir ist im Bonner Beethovenhaus eine CD in die Hände gefallen, auf der seine „Volkslieder“, hier haben wir den Begriff wieder, zu hören sind. Darunter war aber auch eins mit gälischer Melodie, zumindest war das mein Verdacht, obwohl dazu nichts zu finden war. Ich bin dann viel in schottischen Archiven gewesen, in Glasgow und Edinburgh, habe gälische Tonaufnahmen gehört und viel Literatur gelesen. Die BBC wollte sowieso etwas zu dem Beethoven-Jubiläum machen, hat mich begleitet und dann vor allem logistisch bei meiner Doktorarbeit unterstützt. Dabei raus kam das, worüber wir die ganze Zeit reden: Lieder hängen zwischen allen Stühlen. Traditionelle Lieder, aus denen klassische Lieder gemacht wurden.
In unseren 11 Fragen sprechen Sie davon, dass Sie eher der traditionellen Seite der Liedkunst und nicht der klassischen angehören. Wo genau liegt da für Sie der Unterschied?
Der klare Unterschied: Ich habe keine klassische ausgebildete Stimme. Ich singe mit meiner natürlichen Stimme. Traditionelle gälische Lieder lernen Sie natürlich auch bei richtigen Lehrern. Trotzdem kommt es hierbei vor allem auf die Sprache an. Die Lieder werden also so gesungen wie man sie liest, und Sie übernehmen die Phrasierungen Ihrer Lehrer, weil es keine Noten gibt. Dann versuchen Sie dieses Lied zu Ihrem eigenen zu machen. Ein gälisches Lied muss immer ein gälisches Lied bleiben, aber anders als beim klassischen Kunstlied gibt es dabei viel mehr Interpretationsspielraum. Liedkunst ist genau festgelegt, auch in der Art wie Sie es singen und spielen.
Und warum sagen Sie „traditionelle Lieder“ und nicht einfach „Volkslieder“?
Nicht alle diese Lieder sind Volkslieder. Wir haben im Gälischen auch eine offizielle Repräsentationsmusik, gesungene Gedichte in Form von Balladen zum Beispiel, die zu bestimmten Anlässen gesungen werden. Die sind dann über die Vertreibungen und Melodiesammlungen in die Volkslieder-Schublade reingerutscht, um damit zu machen, was man will. Man hat sie im Grunde als Steinbruch missbraucht, auch um Kunstlieder zu schreiben. Es gibt aber sehr viele Unterschiede. Die klassische Dudelsackmusik ist ähnlich wie das Kunstlied sehr „festgelegt“ und Sie müssen das Instrument total gut kennen, während beim Tanzlied der ganze Prozess der Kontrafaktur völlig offen ist und das würde ich dann auch als Volkslied bezeichnen. Das ist auch der Grund, warum ich bei Haydn oder Beethoven nicht von „Volksliedbearbeitungen“ rede, sondern eben von Liedbearbeitungen.
Worum geht es, wenn Sie gälische Lieder singen?
Fangen wir mal mit der klassischen gesungenen Dudelsackmusik an. Das sind Lieder in Begleitung von Dudelsäcken. Jetzt muss man sich das nicht mit großen, lauten Dudelsäcken vorstellen und den dicken schwarzen Bärenmützen und Marschformationen. Das sind natürlich kleinere Dudelsäcke, damit man die Lieder verstehen kann. Dann gibt es Totenklagen zu Beerdigungen oder Propagandamusik zur Aufmunterung, wenn der Clan zusammenkam und in eine Schlacht zog. Außerdem wurden Arbeitslieder von Frauen gesungen, die gemeinsam Stoff gewalkt haben. Diese Lieder haben solange wie der Prozess selbst gedauert, also sagen wir 3-4 Stunden – und die Frauen konnten das auswendig. „Die Lieder aus dem Mund“ war gesungene Tanzmusik, heißt Sie singen einen Text, der einem Rhythmus folgt und man braucht keine Instrumente. Die Party kann sofort losgehen sozusagen. Auch hier gibt es, wie bei der Nationalmusik, aber wieder einen politischen Hintergrund: Während der [religiösen] Reformation sollten Instrumente verboten werden. Mit den Liedern aus dem Mund haben sich die Menschen geholfen, weil Instrumente viel schwerer zu verstecken waren. Man konnte ja einfach den Mund halten.
Sie selbst singen mit Ihrem gälischen Musikensemble Ludwig Mòr Ensemble ja auch. Wie wichtig ist Ihnen dabei denn der politische Hintergrund?
Wir sind ja ein Quartett, heißt ein Pianist, eine klassische Sängerin, ein Dudelsackspieler und ein traditioneller Sänger. Normalerweise erzählen die Künstler in der klassischen Musik die Geschichten der Lieder so: Sie haben eine Bibliografie, die fängt ab der gedruckten Notenversion an. Wir aber fragen uns: Wo kommt das Lied her? Wir erzählen die Geschichte entsprechend rückwärts. Also um nochmal auf Beethoven zurückzukommen: Wie ist das gälische Lied zu ihm gekommen und was hat er daraus gemacht, was verändert? Und wenn wir uns mit dieser Geschichte befassen, dann stellen wir unweigerlich fest, dass auch Musik einen total politischen Aspekt hat. Schließlich muss man sich hier ja die Frage stellen, ob man jemanden Musik wegnehmen kann. Ich behaupte ja, denn wenn man jemandem die Melodie wegnimmt und ausradiere in welcher Sprache es ursprünglich mal verfasst wurde, dann ist das Diebstahl. Die klassische Musik ist da aber immer noch sehr verhalten – und ich will natürlich niemanden politisch erziehen. Ich möchte nur Hintergründe aufklären.
Sie haben auch den Roman An Uinneag don Iar (Das Fenster zum Westen) geschrieben. Was kann man sich unter einem „gälischen Roman“ vorstellen?
Also zunächst einmal ist das einfach ein Roman, den man in gälischer Sprache schreibt. Nun kommt hier dazu, dass gälisch nun mal nicht meine Muttersprache ist und ich auch nicht versuchen will gälischer zu sein als die Gälen. Also habe ich mich für eine Geschichte aus meiner Kultur entschieden und wollte wissen, wie interessant die Gälen das finden. Die Story findet im geteilten Berlin statt, es geht um eine Familie, die sich verliert und ein Teil der Familie taucht in Schottland wieder auf. Das Ganze ist aufgebaut wie ein Krimi und am Ende findet ein großer Showdown statt. Tatsächlich ist der Roman sehr gut bei den Gälen angekommen und ich habe damit mein Ziel erreichen können.
Fernsehen, Romane, Liedgesang – Was tragen Sie mit Ihrer Kunst zu dem Erhalt der Kultur der Gälen bei?
Naja, wir sprechen hier ja von einer Minderheiten-Kultur: Gälisch wird noch von 58.000 Menschen gesprochen. So viele Einwohner hat Beuel, ein Stadtteil von Bonn. Das ist nicht viel. Da zählt jeder Sprecher. Deshalb unterrichte ich auch und habe mittlerweile viele Schüler, die gälisch lernen wollen. Einige davon sind nach Schottland gezogen und haben Arbeit gefunden, im erzieherischen Sektor oder in den Medien zum Beispiel. Die Menschen machen ihr eigenes Ding draus, und ich kann dazu beitragen die Kultur zu erhalten. Der Brexit war natürlich ein entsetzlicher Schlag ins Kontor, wenn man versucht deutsche und schottische Kultur zu vermitteln. Dann kam noch der Corona-Virus dazu, weil er es verhindert zu reisen etc. Das hat vieles verschlimmert, und manchmal habe ich mich schon gefragt: Ist jetzt der Punkt um aufzuhören? Wie Sie sehen: Natürlich mache ich jetzt erst recht weiter. Dafür spricht ja auch das Interview.