Überall ist vom Schwinden des Publikums die Rede. Was sind die Ursachen? Ist die Pandemie daran schuld?
Agenda für digitales Künstlertreffen im Januar
Darüber machen wir uns seit Januar 2023 gemeinsam Gedanken – zusammen mit unseren Netzwerk-Mitgliedern, Partnern und Veranstaltern sind wir ins Gespräch gegangen. Ein Projekt, das fortgesetzt wird.
Ziele
- Verhaltensmuster verstehen
- Entscheidungen und Verhalten analysieren
- Position und Kommunikation von Veranstaltungen neu denken
- Neue Strukturen akzeptieren
- Lösungen als Zukunftssicherung entwickeln
Es fanden zunächst zwei jeweils eineinhalbstündige digitale Zusammenkünfte statt, die jeder und jedem offenstanden, der / die Interesse hatte. Insofern freuen wir uns sehr, dass jeweils 10 – 16 Personen dabei waren und diese aufgrund ihrer ganz unterschiedlichen Aufstellung schon ein interessantes Potential boten.
Die Termine waren am Dienstag, 17.1.2023 | 17.30 – 19.00 Uhr und am Samstag, 21.1.2023 | 13.30 – 15.00 Uhr. Ein dritter Termin wird im Frühjahr stattfinden, um Interessent*innen zu erreichen, die beide Termine nicht wahrnehmen konnten, um den Austausch weiter fortzusetzen.
Thematischer Überblick
- Postpandemische Zuspitzung: Die Corona-Pandemie hat viele gesellschaftliche Entwicklungen, die es schon vorher gab, verschärft oder einfach nur sichtbarer gemacht. So eben auch die Tendenz des Theater/Oper-Publikums zu verschwinden. Denn die Publikumszahlen auf Deutschlands Bühnen waren auch vor 2020 schon rückläufig: Statistik Deutscher Bühnenverein [öffentlich getragene Theater, Festspiele, aufgeführte Privattheater, selbstständige Sinfonieorchester und Rundfunkorchester] von 2017 auf 2018 – von 35, 5 Mio. auf 34,7 Mio.
Abonnements, die ab 1945 eingerichtet wurden und bis 2020 bestanden sind eingebrochen. Große Veranstalter arbeiten mit flexiblen Abonnements, kurzfristig wählbar, als Rabattbox zu buchen und ähnliche Maßnahmen. Auch alteingesessene Formate wie die eher bunten Abonnements der Freien Volksbühnen, die schon seit den 2000er Jahren um Abonnenten kämpfen scheinen auf der Suche nach einem neuen Format in der neuen Zukunft zu sein.
- Gigantisches Überangebot 2022: Insgesamt beklagen 2022 viele Häuser einen Besucherrückgang. Die schlechten Besucherzahlen sind derzeit auch bedingt durch ein gigantisches Überangebot, das sich aus dem Rückstau der Lockdown-Zeiten und der Angst vor der nächsten Welle im Herbst ergeben hat.
Dennoch unterschiedlich innerhalb Branche. Best Practice:
– Die Bayerische Staatsoper sieht sich 2022 bereits wieder bei rund 90 Prozent Auslastung (U30 Karten, Livestream, VideoOnDemand)
– Die Dresdener Philharmonie hat ihre Schülerkonzerte komplett kostenfrei gemacht. Ergebnis: immer zu 100 Prozent ausgebucht
– Oper Frankfurt: 5000 Abonnenten verloren/ dramatischer Rückgang auch bei Südwestddeutsche Philharmonie.
Woraus ergeben sich die Unterschiede?
Kein Alternativprogramm während Pandemie wie z.B. bei Oper Frankfurt, um Stammpublikum zu binden/ keine Besucherforschung (siehe unten). Schauen auf Angebotspolitik, Vermittlungsformate, Ansprache Publikum und Bindung Stammpublikum.
- Wie steht es überhaupt um Interesse an und Nutzung von Kultureinrichtungen? Welche Einstellungen zur öffentlichen Förderung von Theatern/Opernhäusern und welche Erwartungen an Programm und Aufgaben von Theater gibt es in der Bevölkerung in Deutschland? Mit Unterstützung durch das Meinungsforschungsinstitut USUMA hat das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim dazu im Mai/Juni 2019 eine telefonische Repräsentativbefragung mit 1.000 Personen aus der Grundgesamtheit der wahlberechtigten Wohnbevölkerung in Deutschland durchgeführt.
- Nur ein Drittel der Bevölkerung ist an klassischen Kulturangeboten wie Theatern / Klassik interessiert – überdurchschnittlich Frauen, ältere Menschen, formal hochgebildete und Großstadtbewohner*innen
- Nur wenige gehören zu den Viel-Besucher*innen von Theatern: Abos und Besucherorganisationen sterben aus, Einzelkartenverkauf steigt, Bindung zu Häusern sinkt kontinuierlich.
- Mangelnde Zeit wird mehrheitlich noch vor mangelndem Interesse als Grund für den Nicht-Besuch angegeben (siehe unten: nur „oberflächlicher“ Grund, da Prioritätsfrage)
- Gewollt sind vor allem „Programme für Kinder und Jugendliche“ (89 %), „Programme anbieten, bei denen man lachen kann“ (86 %) und „Stücke zeigen, die für jeden verständlich sind“ (80 %). 66 Prozent möchten „aktuelle Stücke und künstlerische Experimente“, 60 Prozent erwarten „klassische Stücke von wichtigen Autoren“.
- Einen positiven Einfluss auf den Kulturbesuch haben ein weibliches Geschlecht, ein formal hoch gebildetes Elternhaus, frühe Besuche von Theatern und Konzerten mit den Eltern und der Schule, eigene künstlerische Aktivitäten in der Vergangenheit, ausreichende Informationen sowie persönliche Empfehlungen.
- Trotzdem: Große Zustimmung zur öffentlichen Förderung von Oper/Klassik/Theater in allen Bevölkerungsgruppen, auch bei den Nicht-Besucher*innen: Die Diskrepanz zwischen Ja zu Förderung und Nein zum Konzert selbst kann eigentlich nur mit dem Image von Klassik als verstaubte Hochkultur-Weihestatt zu tun haben. „Die größten Probleme bestehen in den klassischen Repertoirestrukturen, dem traditionellen Kanon, den traditionellen Produktions- und Rezeptionsformen, den Erwartungshaltungen an Oper/Theater und Museum und dem damit verbundenen Image. Ein für neue Zielgruppen attraktives Programm ist der wesentliche Einflussfaktor, um diese als Publikum zu gewinnen“, schrieb die Ko-Autorin der Studie Birgit Mandel bereits 2012 im Rahmen der Ringvorlesung ‚Hildesheimer Thesen‘ dazu.
Es besteht also ein Interesse daran, das „kulturelle Erbe“ zu erhalten, auch wenn man das Angebot selbst nicht nutzt. Ähnliches ist bei drohenden Kirchenschließungen zu beobachten: Der dann aufbrandende lokale Protest und die Spendenbereitschaft zeigen, dass die Funktion der Kirche als sozial wichtiger Ort im Wohnumfeld wahrgenommen wird.
- „Nicht-Besucherforschung: Audience Development von Kultureinrichtungen“ / Tröndle
Kunst + Marketing + Audience Development gehören zusammen. Aus der konkreten Erfahrung der Produktionen, entwerfen Audience Developer Werbekampagnen und denken dabei zielgruppenorientiert. Programme entstehen in Rückkopplung mit gewünschten Besuchern, dabei Relevanz stiften/Identifikation für das Publikum schaffen. Mit wem will ich in den Dialog treten und warum?
- Bei Marketingmaßnahmen immer fragen: Wo sind unsere Zielgruppen? Welche Kanäle nutzen sie? Kanäle selbst haben sich auch verändert: Lokalpresse z.B. fällt in Großstädten immer stärker weg, Social Media nimmt zu. Eine wirkliche Alternative zur Tagespresse bieten die Social Media jedoch nicht, da zahlreiche Interessenten der Kultur hier nicht erreicht werden.
Stichwort: Publikumsforschung bzw. „Nicht-Besucherforschung“: Wie komme ich an diejenigen, die ich bisher nicht erreiche? Wer davon ist für mich / die Kunst/ den Kartenverkauf relevant und warum?
Außerdem realistisch bleiben: Wie viel Zeit haben wir? Wie langfristig können wir planen? Welchen Mut müssen wir haben? Wieviel Geld können wir investieren?
- „Nähe“ als Dispositiv
Entscheidend für die Gewinnung von Nicht-Besuchern ist für Tröndle et al, dass sie einen Moment der „Nähe“ erfahren. Dies sei einmal inhaltlich-lebensweltlich zu verstehen, also durch den künstlerischen bzw. kulturellen Inhalt selbst, der Momente der Identifikation bietet und dem zu folgen man geistig in der Lage ist. Andererseits geht es um kontextuelle Aspekte, etwa die Architektur, die einladende Gestaltung der Räumlichkeiten, die Wohlfühlatmosphäre sowie ein dem Besucher ähnliches Publikum. Tröndle spricht hier von „Nähe als Dispositiv“, welches beispielsweise das Stück und die Inszenierung, aber auch das Ambiente, das Image, das soziale Miteinander und die Willkommenskultur des Hauses einschließt. Beispiel: Singles abholen, die nicht gerne alleine ins Theater gehen wollen durch Angebote, mit denen sie in eine Gruppe von Besuchenden integriert werden. (Vorbild: erfolgreicher Single-Tisch für 3 bis 10 Singles im Restaurant: Sie wären ohne das Angebot nicht gekommen, weil der Aufenthalt keine Lebensqualität geboten hätte)
- Martin Tröndle: Das oft geäußerte Argument, weder über Geld noch über freie Zeit zu verfügen, um eine Kulturveranstaltung zu besuchen, konnte nicht bestätigt werden. Weder mangelndes Geld noch fehlende Zeit sind Hinderungsgründe für den Kulturbesuch (siehe S. 62). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch der Arts Council. Beides sind wohl eher Argumente, die schnell zur Hand sind, jedoch die tieferliegenden Motive des Nichtbesuches verdecken.
- Auch mit einem interkulturellen, also für Menschen mit Migrationshintergrund z.B., Audience Development können nicht alle Bevölkerungsgruppen für Theater und Museum interessiert werden. Durch Kooperation mit vielen verschiedenen Partnern und Multiplikatoren jenseits des Kultursektors kann es gelingen, Menschen aus bislang nicht kunstaffinen Milieus zu erreichen und in partizipativen Projekten zu involvieren. Hier gilt es, Kooperationen zu schaffen und Aufführungsräume außerhalb des eigenen Hauses zu schaffen. Frage auch hier: Wen wollen wir erreichen und warum? Sind zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund eine wichtige Interessensgruppe? Wovon profitieren wir / die Kunst dabei?
- Werbung versus Word of Mouth: Plakate, Werbung in alten (wie dem Radio) und neuen (sozialen) Medien, sind nützlich. Die Besucherumfragen der Häuser bestätigen jedoch immer wieder: Das Word of Mouth wiegt schwerer, da es authentischer ist und die Personen, die sich über Erlebtes austauschen sich oft gut kennen bzw. sich in dauerhaft genutzten sozialen Umfeldern austauschen (Sportklub, Parties, Restaurantbesuch, Elternabend….). Mund-zu-Mund-Propaganda braucht Zeit, um sich zu verbreiten: Konzerte demnach nicht zu nah hintereinander planen.
- Über die Produktion von Kunst hinaus sollten Kulturprogramme vor allem für eine breite Teilhabe sorgen: Relevanz stiften: „Es kann inhaltlich-lebensweltliche Nähe sein, die thematisch im Stück angelegt ist, eine Dramaturgie, die überrascht und Momente der Identifikation evoziert, die Architektur der Kultureinrichtung, die Innengestaltung der Räumlichkeiten, die Gestaltung des Aufführungsraumes und seine Atmosphäre, das soziale Gefüge des Publikums und das Gefühl teilzuhaben.“
Quellenangaben
- Bei Netflix bedient (Nachtkritik) – https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=21346:publikumsschwund-interview-mit-dem-unternehmer-hannes-tronsberg&catid=53&Itemid=60
- Ach, diese Zahlen, diese entsetzlichen Zahlen (Nachtkritik) – https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=21137:wo-bleibt-das-publikum-recherche-zu-einem-thema-der-stunde&catid=101&Itemid=84
- Theaterstatistik Deutscher Bühnenverein (Deutscher Bühnenverein) – https://www.buehnenverein.de/de/publikationen-und-statistiken/statistiken/theaterstatistik.html
- Nicht- Besucherforschung. Martin Tröndle (Springer Verlag) – https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-25829-0
- Rainer Glaap: Blog zum Thema Publikumsschwund – https://publikumsschwund.wordpress.com/home/
Strategie und Maßnahmen
- „Future Demand“ – Machine Learning für ausverkaufte VAs
- „Tuned“ – Netzwerk für zeitgenössische Klassik
- Thüringer Bachwochen Pay what you can!
- Berliner Konzerthaus „Aus den Fugen“
- Lokaler Ansatz: Pulheimer Künstler*innen gründen Kulturnetzwerk und gehen in aktiven Austausch
und schauen sich ähnliche Formate an, die genau das Publikum haben, das erreicht werden soll.
Kooperationen sollen verstärkt werden, Programme auf Tour und Austauschen sind wichtig. Dazu ist eine Flexibilität bei den Ticketverkäufen „auszuhalten“: Das Verhalten hat sich stark zu einem spontanen Besuch verlagert. Ein Trend, der auch in anderen Branchen wie Urlaubs- und Reisebuchungen zu beobachten ist: Man legt sich nicht mehr so gerne frühzeitig fest. - Umfrage auf Classical Music zur Umgestaltung der Erlebnis-Formate. Die am Ende aufgelisteten 10 Ansätze werden im Konzertbetrieb fast alle bereits ausprobiert. („Audiences want more modern concert experience, says RPO survey“ 14.9.2023)
Weitere Links zur Nicht*Besucherforschung_
- Thomas Renz: Nicht-Besucherforschung
- Rainer Glaap/ Eventim: Besucherforschung Zwei Handreichungen
- Open Source: Who’s not coming?
Für Künstler*innen_
Was haben wir für unsere Liedwelt aus den Gesprächen mitgenommen?
- Was ein großer Player kann muss ein kleiner nicht unbedingt nachmachen. Es lohnt sich zu beobachten, was „die Großen“ machen. Übertragbar sind Strategien weder finanziell noch taktisch, sie bieten jedoch als Bereicherung für die eigene Umsetzung, für das Verstehen der gesellschaftlichen Bewergungen Anregungen. Sie verhelfen zur Verortung am Markt in einer sich wandelnden Branche. Auch die Frage danach, welcher Platz für unser Kleinformat in dem neuen Markt funktionieren kann erhält neue Inhalte.
- Unsere Zielgruppen müssen dort abgeholt werden, wo sie sind: Aber auch die Zielgruppen sind gerade in Bewegung. Wer nicht weiß wer Ovid oder die Loreley ist wird mit verkopft formulierten Konzepten abgeschreckt, bekommt die Nicht-Dazugehörigkeit bestätigt. So werden wertvolle Menschen Nicht-Besucher. Sinnvoll erscheint es, Menschen mit Bildern und Emotionen abzuholen, die sie beschäftigen, berühren. In ihrer Sprache. An die wir dann mit der Umsetzung der Emotionen und Geschichten anknüpfen.
- Dresscode: Wie vermitteln wir eine einladende, gastliche Atmosphäre? Was versteht der potentielle Besucher darunter? Sitzen wir unseren eigenen Prägungen auf oder haben wir untersucht, was die Zielgruppen sich unter „gastlich“ vorstellen?
Wie zeigen wir, dass man nicht nur in Frack und Abendkleid in den Liederabend geht? Welche Orte sind passende Konzertorte? Was sollten sie bieten? Wo sind die Antworten sinnvoll zu finden? - Welche Bilder positionieren wir? Wo erreichen wir die Menschen? Auf nebenan.de oder google.maps, wo sich viele Menschen darübeer informieren, was Interessantes passiert und was sie besuchen könnten erreichen wir sie nicht.
- Wie langfristig sind Entwicklungen zu denken, finanziell auszuhalten und wieviel Gestaltungswillen kann investiert werden?
- Wir fragen uns: Welche Gruppen werden gesellschaftlich ausgegrenzt und sind für uns aber attraktiv? (Beispiel Single-Tisch) Wo erreichen wir diese Menschen?
Stand: 18. September 2023