
Martin Lindsay über seine unvergesslichen Konzerterlebnisse und seine Lieblingsliedaufnahmen
Das Interview vorlesen lassen:
Was machen Sie tagsüber?
Ich unterrichte viel privat und in der Kölner Hochschule für Musik und Tanz. Ansonsten Recherchieren, Lesen, Üben, Lernen, Freunde-Treffen, Fahrradfahren.
Ihr heisser Literaturtipp?
Die Bücher von Primo Levi und Marcel Proust, Les Rougon-Macquart – Émile Zola, The Book of Daniel – E. L. Doctorow, Auslöschung – Thomas Bernhard.
Mein persönliches Lied-Steckenpferd
Ich habe es gerne, wenn ein Liedprogramm ein Thema oder einen roten Faden hat, mag es aber nicht, wenn es mit Gewalt durchgesetzt wird. Als ich angefangen habe zu studieren, war es üblich, einen gemischten Liederabend zu programmieren. Das gefällt mir sehr. Ein Thema ist toll, aber es ist für mich kein absolutes Muss.
Gehen Sie gerne wandern? Warum? Wo?
Wandern war für mich immer eine furchtbare Vorstellung. Letztes Jahr aber habe ich das Ahrtal für mich (neu-)entdeckt. Das hat mir in diesen schwierigen Zeiten so gut getan und es hat mir geholfen besser mit den schwierigen Themen umzugehen. Die Landschaft ist wunderschön und das Gefühl in der Natur zu sein, war ein großer Trost. Ich war dreimal dort, einmal für ein langes Wochenende. Neulich bin ich auch noch einmal den Rotweinwanderweg gewandert.
Ihre größte Freude beim Lied-Musizieren?
Ich geniesse absolut den Versuch, jedes Lied in seinem besonderen Charakter und Inhalt zu erfassen und darzustellen, und dies dann in dem intimen Ambiente eines Liederabends zu vermitteln .
Das schönste Volkslied?
‚O waly, waly‘ – ein britisches Volkslied.
Ihr Lieblingsort für einen Liederabend
Ein Museum oder Kammermusiksaal
Ihr Ritual vor jedem Auftritt
Am Tag eines Auftritts (je nach Umfang des Auftritts) stelle ich keinen Wecker, und schlafe also, so lange ich es brauche, wobei ich meistens sowieso relativ früh aufstehe. Vormittags bin ich ruhig, summe ein bißchen, gehe gedanklich das Programm durch. Dann gehe ich ordentlich Mittagessen. Am Nachmittag dann lege ich meine Sachen aus, singe mich ein, und mache mich auf den Weg (je nachdem wo, und wie lange ich brauche). Wenn es eine Anspielprobe gibt, singe ich wenig, probiere aber ein paar Stellen aus, um zu schauen, ob alles läuft. Vor dem Auftritt gehe ich dann kurz spazieren, und rede ungerne mit Leuten. Die letzte halbe Stunde vorher bereite ich mich innerlich für den Auftritt vor.
Gucken Sie Fußball?
Nie. Da erschließt sich mir leider keinen Sinn.
Ein unvergessliches Konzerterlebnis:
Das erste Konzert, dass ich in London ganz am Anfang der Studienzeit gehört habe: Muti und das Philharmonia Orchestra: Berlioz – eine Ouvertüre (Carnaval Romain?? – doch nicht unvergesslich!!), Berlioz – La Mort de Cléopâtre mit Jessye Norman, Franck – Symphonie in d.
Das Duett-Konzert von Grace Bumbry und Shirley Verrett in Covent Garden 1983 in meinem dritten Studienjahr. Unglaublich – zwei wirklich großartige Künstlerinnen mit Mut, Imagination und Größe! Umwerfend die Verrett in ihren beiden Arien – Lady Macbeth und Desdemona.
Janet Baker – ‚Fear no more the heat o‘ the sun‘ (Finzi) – dies hat sie mit Geoffrey Parsons in einem Gedenkgottesdienst für einen verstobenen Gesangslehrer gesungen. Da glaube ich verstanden zu haben, was wirkliche künstlerische Größe ist – nicht nur dass alles technisch/musikalisch toll war – der Bogen war über das lange Lied mit einer Intensität und einer emotionalen Integrität gedehnt, ohne den Rahmen des Liedes zu sprengen, war überwältigend.
Etliche Liederabende, aber besonders in Erinnerung geblieben sind die mit Margaret Price, Victoria de los Angeles, Nicolai Gedda, Gwyneth Jones, Marilyn Horne, Elly Amelng und Lucia Popp.
Ihr favorisierte Lied-Aufnahme
Da ich eine sehr große Sammlung habe, hier gleich ein paar!:
Strauss: ‚Befreit‘ – Janet Baker/Gerald Moore. Unglaubliche Verschmelzung von Stimme, Technik, Musikalität, Emotion und künstlerischer Intelligenz.
Elly Ameling – ‚Serenata‘ – neulich entdeckt: ein tolles (gemischtes!) Programm mit Ameling in bester Form.
Schubert: ‚Die Winterreise‘ – Fischer-Dieskau und Demus (DG)
Stanford: ‚A soft day‘ – Kathleen Ferrier/Frederick Stone
Schubert: ‚An die Musik‘ – Victoria de los Angeles/Gerald Moore – emotionale und künstlerische Integrität.
Mahler: ‚Kindertotenlieder‘ – Janet Baker/Leonard Bernstein; eine ‚live‘ Aufnahme aus Tel-Aviv im 1975 – nicht anhören, wenn es einem nicht gut geht…. oder vielleicht doch!
Mahler: ‚Knaben-Wunderhorn-Lieder‘ – Christa Ludwig/Walter Berry/Bernstein (Klavier) – live aus Wien – fantastisch!