„Ich sehe die Liedkunst nicht als eine Reise zurück. Musik, ganz allgemein, hat immer etwas grundsätzlich aktuelles.“
März 2021
Das Interview vorlesen lassen:
„Sehnsucht nach der Waldgegend“
Fehlen dem Menschen in einer belastenden Situation die passenden Strategien, um diese zu bewältigen, kann er in eine Krise stürzen. Zwei dieser Krisen trafen den gebürtigen Briten und Bariton Martin Lindsay in den letzten Jahren ganz persönlich: Der Brexit und die Corona-Pandemie. Mit der Journalistin Barbara Franke sprach der Künstler über sein neues Lied-Programm und die Kraft von Natur, uns in schweren Zeiten wieder mehr Ruhe zu geben.
Herr Lindsay, Ihr neues Programm „Sehnsucht nach der Waldgegend – die Natur als Quelle der Ruhe in schwierigen Zeiten“ lässt schon darauf schließen, dass die Natur eine zentrale Rolle in Ihren Liedern einnehmen wird. Viele definieren die Natur heute als eine Art harmonisches Paradies, das wir verloren haben, seitdem Technik und Mensch so stark in sie eingreifen. Was ist denn überhaupt Ihr Verständnis von Natur?
Ich sehe das nicht so, ich möchte im Hinblick auf die Natur nicht zu etwas „zurück“, also zum Beispiel ein schlichtes Leben auf dem Land führen. Ich bin, auch in meiner Arbeit als Künstler, sehr glücklich in der Großstadt und lebe gerne in Köln. Ich gehöre also nicht zu den Bewegungen, die sich eine Rückkehr zu einem, sagen wir, einfacheren Zustand ohne den erreichten technischen Fortschritt wünschen.
Für mich bietet die Natur aber die Möglichkeit, und damit meine ich punktuell, also speziell in schwierigen Situationen, Ruhe zu finden. Sie gibt uns die Kraft der Abwechslung. Wenn wir von der Stadt in die Natur gehen, fokussieren wir uns plötzlich auf eine Gegend, die auf einmal alles nicht hat, was wir zum Beispiel in der Stadt haben. Ich bin also ganz woanders und genieße die Landschaft, die wenigen Leute und in dem Fall auch die Einfachheit, ohne mich mit den Problemen oder dem Trubel im Alltag zu beschäftigen, der mich sonst umgibt. Die Weite, die Natur hat, lässt uns ausatmen. Sie löst, um das ganz einfach zu sagen, die Knubbel im Kopf.
Natur ist demnach also nicht nur noch das, vielleicht auch naive Bild von „summenden Bienen, grünen Tälern und tiefen Wäldern“, weil sie sich durch den Eingriff von Technik eben auch stark verändert hat. Kann die Liedkunst diese „moderne Definition“ von Natur überhaupt greifen? Speziell, wo es in Ihrem Programm um Krisen wie Corona und Brexit gehen soll.
Wenn Sie das Lied in diesem Fall als rückständig betrachten, dann kann ich hier nicht zustimmen. Ich sehe auch die Liedkunst nicht als eine Reise zurück. Musik, ganz allgemein, hat immer etwas grundsätzlich aktuelles. Ein Komponist kann natürlich so wortmalerisch sein, wie Sie es zitieren, aber viel mehr geht es, auch im meinem Programm, doch darum, in welchen seelischen Zustand das einen Menschen versetzen kann. Die Sprache und die Formalitäten sind nicht unbedingt aktuell, aber die Emotionen darin schon. Hinzu kommt, dass das Lied im besten Fall auch eine sehr intime Form von Kunst ist. Das Setting ist oftmals viel vertrauter, anders als zum Beispiel bei einem Orchesterkonzert. So lässt es sich viel feiner mit Emotionen arbeiten.
Inwiefern sind denn Ihre eigenen Emotionen in das Programm eingebunden? Corona und Brexit, das betrifft Sie als Künstler und Brite ja sehr direkt.
Auf jeden Fall. Bis jetzt, das Programm ist ja noch in der Konzeption, gehört der Brexit in den zweiten Teil, dazu können wir gleich kommen. Die Corona-Pandemie hat mich als Künstler natürlich schlagartig getroffen. Es ging mir tatsächlich sehr schlecht, und das obwohl ich finanziell, im Gegensatz zu anderen Kolleg*innen, durch meinen Unterricht an der Musikhochschule noch relativ gut dastand. In einem etwas bescheidenen seelischen Zustand und auf der Suche nach Abwechslung bin ich letztes Jahr an die Ahr in der Nähe von Remagen gefahren. Anfangs mit Freunden, weil man mich zu solchen Wanderausflügen eigentlich eher überreden muss. Etwas anders zu machen, als ich es gewohnt war, einfach im Wald zu stehen, das war auf einmal sehr schön. Das nächste Mal bin ich sogar allein hingefahren und wandern gegangen, und während dieser Tour ist mir das Schumann-Lied „Sehnsucht nach der Waldgegend“ eingefallen. Ich dachte: Es wäre das Beste, wenn ich versuche aus dieser Krise etwas zu kreieren. Damit hat alles angefangen. Für mich geht es letztendlich nicht speziell um Corona oder eben den Brexit im zweiten Teil. Diese Krisen haben aber sehr existenzielle Ängste in mir ausgelöst und die Natur hat mir dabei geholfen, bei mir zu bleiben. Ich weiß in dem Fall, wovon ich rede, weil ich diese Krisen persönlich durchleben musste.
Bei sich bleiben durch die Natur. Das klingt schon fast spirituell.
Ich würde mich nicht als spirituell beschreiben. Allerdings ist es sehr wichtig in sich selbst „reinzuhorchen“, sich zu fragen, was man selbst braucht und wie es einem geht. Als Künstler haben wir da relativ gute Karten uns selbst zu reflektieren. Aber ich unterrichte auch und habe viele Termine, da verliert man schnell den Fokus und ich tendiere dann dazu, mich einfach durch den Alltag durchzuboxen. Durch die Corona-Krise habe ich wieder ein größeres Bewusstsein gewonnen, und darüber hinaus eine größere Wertschätzung der Fähigkeit innezuhalten.
Der „Corona-Teil“ soll Lieder von Schumann, aber auch von Schubert enthalten. Gibt es weitere Komponisten?
Ja, in Frage kommen zum Beispiel Brahms, Wolf, Strauss oder Liszt. Die Idee, der Ursprung liegt stark in einem „nach innen“ gekehrten Fokus, das Ganze darf aber auch nicht zu, sagen wir meditativ werden. Stimmungsmalerische Lieder, die den Zuhörer in eine andere Welt versetzen sind genauso wichtig wie Geschichten, die nicht unbedingt direkt etwas mit der Natur zutun haben, aber zum Teil in sie eingebettet sind. „Der Jäger“ von Wolf zum Beispiel ist eine sehr lebendiges Lied worin das Dasein – und das Jagen! – in der Natur einen schmollenden Liebhaber versöhnt, das „Nachtstück“ von Schubert hingegen ist sehr innig. fast spirituell, und erzählt von einem alten Mann, der in die Nacht hinaus geht und stirbt. Langatmige und kontemplative Stücke sollen aber im Mittelpunkt stehen. „Wanderers Nachtlied“ von Goethe könnte ich in der berühmten Vertonung von Schubert singen, es gibt aber auch eine seltenere von Liszt. Das muss ich noch überdenken.
Kommen wir nun zum Brexit-Teil. Auch hier muss ich wieder fragen: Das Lied könnte man auch als eine Art „aus der Zeit gefallene Kunstgattung“ verstehen, die jetzt auf eine, ja sehr politische Krise trifft. Was kann die Liedkunst da bewirken?
Meine Definition von Lied habe ich Ihnen ja bereits erklärt. Was den politischen Aspekt des Brexits angeht; den finde ich für das Programm nicht wichtig und das funktioniert mit dem klassischen Liedgut auch nicht, es sei denn, man hätte wirklich politische Texte, die dazu passen. Aber, auch wenn ich dem Brexit und damit Großbritannien gegenüber sehr abgeneigt bin, gibt es ganz viele Dinge, die ich in England liebe, meine Freunde und meine Familie zum Beispiel. Die britischen Lieder, darunter auch Volkslieder, die diesen Teil des Programms ausmachen werden, sollen viel mehr als grenzenloser Bogen in Europa stehen. Die Lieder haben etwas affirmatives und ich möchte zeigen, dass es auch so viel Schönes gibt, das wir durch den Brexit nicht verlieren dürfen. Außerdem: Am Brexit können wir nichts ändern, aber die Musik bleibt, wenn wir durch die politischen Gegensätze etwas verlieren.
Der Titel für den Brexit-Teil „Nicht mit mir“ klingt sehr persönlich. Welche Ansicht vertreten Sie als gebürtiger Brite?
Ich lebe jetzt seit 22 Jahren in Deutschland und war immer ein überzeugter Europäer. Eigentlich wollte ich immer im Ausland leben. Wenn ich mich als Europäer sehe, dann kann ich besser mit den Eigenschaften der Briten umgehen, die ich nicht mag. Das ist natürlich eine sehr subjektive und wahnsinnig pauschale Aussage, aber der Rassismus und die weltpolitische Arroganz, diese Insel-Mentalität, das hat mich immer fertig gemacht. Das waren keine „Akut-Gründe“ für mich damals auszuwandern, aber es hat mich wahrscheinlich unbewusst dazu bewegt, immer wieder zu verreisen. Und was den Brexit angeht: Er hat mich nicht überrascht, aber natürlich erschüttert. Die Befürchtung, dass ich möglicherweise wieder zurückmuss, die habe ich zwei Jahre mit mir rumgetragen und deshalb vorhin von existenzieller Angst gesprochen. Ich durfte ja auch nicht mit abstimmen, und so war mein Leben fremdgesteuert. 2018 habe ich dann die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, jetzt habe ich die doppelte Staatsbürgerschaft.
Wenn wir nochmal die Natur ins Auge fassen: „We go Brexit“ ist ja eine sehr nationale Ansicht und der Klimawandel als solches ebenfalls eine Krise, für die es offensichtlich aber internationale Lösungen bedarf. Was können Sie zu dieser Art von Nationalismus sagen? Wie schlimm finden Sie das?
Einen harten Brexit ohne Austrittsabkommen zu forcieren, Erasmus zu erschweren, alleine das ist ungeheuerlich. Von jetzt an haben Künstler aus England es schwerer hier in Europa zu arbeiten. Das ist eine Katastrophe. Wie gesagt, ich habe mich immer als Europäer empfunden und möchte mit meinem Programm das englische Liedgut feiern, aber inwiefern meine persönliche Abneigung da mit einfließen wird, das weiß ich noch nicht. Die Natur soll auch hier den Mittelpunkt bilden, nicht meine politische Meinung.
Wird es eine dramaturgische Arbeit mit einem Regisseur geben?
Möglicherweise, ja. Brexit/Landschaft und Corona, das sind die Themen, aber ob ich wirklich beide Krisen aufteile oder letztlich doch ein durchgehendes Programm gestalte, in das ich die englischen Lieder mit einfließen lasse, das steht noch aus. Möglich sind auch Lieder aus dem französischen Repertoire, die „Histoires naturelles“ von Ravel zum Beispiel oder aber der „Catalogue de Fleurs“ von Milhaud, mit Texten aus einem Samenkatalog, was sehr charmant ist. Wie ich das dramaturgisch umsetze, entscheidet sich bis zum Sommer. Das ergibt sich natürlich auch in Verbindung und in Zusammenarbeit mit meiner Lied-Partnerin Elnara Ismailova. In der Gestaltung unserer Programme arbeiten wir sehr gut zusammen, und ich schätze ihr Input sehr. Dann ist das Programm hoffentlich bühnenreif.
Abschließend da noch die Frage. Die Konzeption hat ja schon im letzten Jahr begonnen. Warum hat das so lange gedauert?
Naja, wie gesagt, es ging mir zu Anfang der Corona-Krise sehr schlecht und bis heute hätte ich das Programm sowieso nirgends aufführen können. Bei der Konzeption hat mir manchmal tatsächlich die Motivation gefehlt, als würde ich da sowieso nur ins Leere Inhalte produzieren. Ein Künstler braucht die Öffentlichkeit, das ist so. Deshalb hoffe ich natürlich auf baldige Lockerungen. Mein Optimismus schwankt aufgrund von steigenden Zahlen aber jetzt wieder. Es bleibt spannend.
Mit Martin Lindsay sprach Barbara Franke