
„Das Streaming ersetzt kein Konzert, es killt aber auch keins.“
Juli 2021
Das Interview vorlesen lassen:
Ein Livestream könne der Liedkunst langfristig nicht helfen, hatte der Bariton Johannes Held noch vor rund einem Jahr vor dem Auftakt seines „Zwerg-Festivals“ in unserem Podcast gesagt. Heute spricht der Künstler von einer „Co-Existenz“ des Streamings. Wie Corona seine Arbeits- und Denkweise im Hinblick auf das Lied verändert hat und was die Branche in Zukunft anders machen kann oder sogar sollte, verriet der Sänger und Festivalleiter im Interview mit Barbara Franke.
Seit sieben Jahren ist Johannes Held bei keinem Haus mehr angestellt. Er arbeitet als freischaffender Sänger und hat 2012 das damals einzige deutsche Liedfestival gegründet. Vor Corona bestand sein beruflicher Alltag aus vielen Konzerten in ganz Europa, darunter in Italien und vor allem Skandinavien, weil er seinen Abschluss an der königlichen Opernakademie in Dänemark absolviert hatte. Seine Frau lernte er bei einer Inszenierung von „Carmen“ in der königlichen Oper in Kopenhagen kennen und zog mit der Tänzerin nach Berlin. „Die Stadt kannte ich nach fünf Jahren allerdings immer noch überhaupt nicht, ich bin ja immer nur unterwegs gewesen und war sehr müde, wenn ich Zuhause ankam“, erzählt er. Im Oktober 2019 bekamen die beiden ihr erstes Kind. Sechs Monate später sollte die Corona-Pandemie nochmal alles verändern: Sie hatte mit einem Mal dafür gesorgt, dass alle Konzerte verschoben wurden, darunter jede Menge Liederabende und die Johannespassion in Mailand. „Das Problem, das ich anfangs mit Corona hatte, war vor allem, dass ich nicht wusste, wie lange die Pandemie dauern würde. Die Konzerte wurden nur verschoben, ich musste mich also trotzdem weiter vorbereiten und hatte dadurch keinen Urlaub.“
Gleichzeitig habe der Künstler aber auch sehr viel Zeit mit seiner kleinen Familie verbringen können. „Und als diese ‚verschoben-verschoben-verschoben‘-Kette dann letzten Sommer endlich mit ‚abgesagt‘ geendet ist, war ich wirklich erleichtert“, erklärt er. Denn eine Pause sei eigentlich schon länger notwendig gewesen, auch wenn weniger radikal. „Neben der Johannespassion und Liederabenden hatte ich noch eine Haydn Messe in Schweden, Golgotha (Martin) in Freiburg und eine Uraufführung in Copenhagen mit Copenhagen Phil zu singen. Das wäre eine verrückte Zeit geworden.“ Als freischaffender Sänger sei da aber immer der Druck, dass man relevant bleiben und Jobs kriegen müsse. „Du musst die Erwartungshaltung der Agenturen und Veranstalter erfüllen und hast selbst einen hohen Anspruch an dich als Künstler. Ich habe mir deshalb nur selten eine Auszeit genommen“. Zu dieser Zeit sei der Bariton also vor allem dankbar gewesen. Mit seiner Kleinfamilie fuhr der gebürtige Stuttgarter letzten Sommer kurzerhand in die Berge nach Österreich und besuchte sechs Wochen die Hütte seines Großvaters. Hier habe er viel Zeit für Reflexion gehabt. „Da ist dann eine Lücke, und in diese Lücke hinein fließt Kreativität“.
Das Streaming hat mir mehr Spaß gemacht als ich dachte, und außerdem war es die einzige Einnahmequelle, die da war.
Sein Lied-Festival, das alle zwei Jahre Anfang August in Sindelfingen stattfindet, wollte der Künstler trotzdem nicht absagen. „Wir durften den ‚Zwerg‘ glücklicherweise veranstalten, von den ursprünglichen 200 Sitzplätzen vielen aber 160 weg. Pro Konzert durften demnach nur 40 Zuschauer teilnehmen. Das bedeutete für mich einen riesengroßen Einbruch der Einnahmen“. Doch der Künstler hatte Glück: Die „Junge Bühne Sindelfingen“ bot dem Festivalleiter ein Streaming an, während die Kinderfilmakademie „Sim TV“ die Konzerte professionell filmte. „Und weil wir als eines der wenigen Festivals in Deutschland trotzdem stattgefunden haben, haben auch der SWR und der Deutschlandfunk mitgemacht“. Wer also keine Live-Karte für das Festival bekam, konnte trotzdem dabei sein – und das von überall aus. „In den Streams tummeln sich auf einmal Zuschauer aus New York, Stuttgart oder Stockholm. Es hat also auch was damit zu tun, dass Menschen den digitalen Raum nutzen, weil sie nicht in der Lage sind zu so einem Festival zu reisen“. Das allein sei ein Fortschritt.
Heute nutzt der Sänger das Streaming auch für seine eigenen Liederabende. „Vor dem Festival habe ich vielleicht noch mit dem Gedanken gehadert. Das Streaming hat mir mehr Spaß gemacht als ich dachte, und außerdem war es die einzige Einnahmequelle, die da war.“ Seine Livestreams, in denen er mit verschiedenen Leuten an verschiedenen Orten Lieder singt, besuchen rund 50-70 Besucher, die Spenden belaufen sich derzeit auf 1500€ – 2000€ pro Stream. „Ich bin an der Stelle ja dann auch unabhängig von einem Veranstalter und dadurch viel freier. Heute weiß ich: Das Streaming ersetzt kein Konzert, es killt aber auch keins. Es schafft Präsenz und Einnahmemöglichkeiten.“
Lied kann begeistern. Um zu begeistern, müssen wir nicht immer einen Frack tragen und innerhalb eines starren, anbiedernden Konzertgerüstes singen.
Sein Streaming-Equipment werde er nach Corona auch mit zu regulären Liederabenden bringen. Dass Liedkunst langfristig nur im analogen Raum funktioniere, davon sei er nicht überzeugt. Im Gegenteil: Er hofft auf noch mehr digitale Möglichkeiten und möchte damit auch den Raum für neuartige Konzerte öffnen. Auf seinem YouTube-Kanal erscheinen regelmäßig die „Happy Boys“, die Johannes Held als mehrstimmigen A-cappella-Männer-Chor inszeniert und bisher vor allem Schubert/Schumann- und Brahms-Lieder singt. Für die Zukunft wünscht er sich eine Mischung aus Podcast und Liederabend. „Ich stelle mir vor, wie ich mit Kollegen vier Stunden Musik mache, wir dabei ganz viel über die Musik sprechen, Dinge verändern und neu erarbeiten, also eine Art authentisches Kunstliedformat, das auch hinter die Kulissen schaut und zeigt, wie wir als Musiker eigentlich arbeiten.“
Ob es dafür ein Publikum gibt, weiß Held nicht. Es ginge aber erst einmal darum, die Branche überhaupt dafür zu öffnen und keine Angst vor Unprofessionalität zu haben. „Das hilft der Kunst nämlich tatsächlich nicht.“ Es sei lächerlich, wenn Social Media dazu benutzt werde, ein entrücktes Bild von einem Künstler zu kreieren, der nur in seinem Elfenbeinturm sitzt und aussieht wie ein Model. „Das Streaming gibt uns potenziell ja auch die Option, mehr zu zeigen, was uns wichtig ist. Prozesse zu zeigen. Bei der Männerchor-Literatur von Schumann geht es mir um einen inhaltlichen Kern. Ich habe selbst lange Jahre im Knabenchor in Stuttgart gesungen und heute leider keine Zeit mehr dazu. Jetzt kann ich trotzdem wieder damit experimentieren. Und ich will auch nicht zeigen, dass ich die geilste Stimme der Welt habe. Das hat nichts mit Egozentrik zu tun.“
Ich hatte auch Angst, dass ich mit dem Livestream nicht umgehen kann oder die Leute nicht mögen, was ich da mache. Letztlich bin ich damit aber gut durch die Krise gekommen, weil ich gelernt habe Lösungen zu finden, die zu neuen Erfahrungen geführt haben.
Viel mehr möchte der Künstler mit dem Lied seine Zuhörer inspirieren. „Lied kann begeistern. Um zu begeistern, müssen wir nicht immer einen Frack tragen und innerhalb eines starren, anbiedernden Konzertgerüstes singen. Im Gegenteil, wenn wir bei Schubert oder Schumann bleiben wollen: Das waren natürlich hochgebildete und wahnsinnig kulturaffine Menschen. Sie waren aber auch lustig, haben Trinklieder komponiert zum Beispiel. Deshalb verlieren ihre Werke aber nicht an Klasse.“ Die Strukturen, die Streaming und Social Media bieten, können den Künstler auch gleichzeitig dazu anregen, sich noch mehr mit der Wirkung seines Gesamtkonzeptes auseinanderzusetzen. „Wir übernehmen da dann nicht einfach das uns Vorgegebene, sondern versuchen uns in etwas ganz Neuem. Wichtig für mich ist dabei nur, dass ich klassische Liedkunst mache und dabei bleibe ich auch. Ich versuche keine andere Kunstform, ich nutze nur neue Strukturen für mich.“
Dass man dabei immer wieder mit Dämonen kämpfe, gehöre dazu. „Ich bin ja auch kein Techniker, sondern Sänger. Ich hatte auch Angst, dass ich mit dem Livestream nicht umgehen kann oder die Leute nicht mögen, was ich da mache. Letztlich bin ich damit aber gut durch die Krise gekommen, weil ich gelernt habe Lösungen zu finden, die zu neuen Erfahrungen geführt haben.“ Die sind jetzt nicht mehr wegzudenken. Die Rückkehr zu einer rein analogen Konzertkultur auch nicht.