
Januar 2021
Mit Esther Borghorst sprach Barbara Franke
Kann Liedkunst heilsam sein? Esther Borghorst über die Fähigkeit von Kunst, unseren Blickwinkel zu verändern
Pharmazie studieren und gemeinsam mit einem Freund eine Apotheke übernehmen. Das war der jugendliche Plan, den Esther Borghorst hatte, noch bevor sie Altistin wurde. Unmittelbar nach ihrem Studium nahm sie professionell Gesangsstunden. Heute arbeitet die Sängerin nur noch nebenbei in einer Apotheke. Ihre Berufe, so unterschiedlich sie zunächst erscheinen, stehen trotzdem weiterhin in Verbindung zueinander. Im Lied geht es der Künstlerin nämlich vor allem um eines: um Zuspruch und Heilung. Mit der Journalistin Barbara Franke sprach Esther Borghorst im Liedwelt-Interview über die eigene Liebe zum Lied, die Corona-Krise und die Fähigkeit durch Kunst, den Blickwinkel auf sich und die eigene Umwelt zu verändern.
Ich möchte, dass die Menschen im Konzert etwas für sich mitnehmen, dass sie anders herausgehen, als sie reingekommen sind. Ich bringe ein, was mir geschenkt ist: meine Stimme.
Es ist Mitte Dezember 2020, der zweite große Lockdown hat begonnen und hängt schwer über der diesjährigen Weihnachtszeit. Alle Läden sind wieder geschlossen, Konzerte weiterhin abgesagt, selbst das Interview kann nur digital stattfinden. Darf man an Heiligabend die Familie sehen, dürfen Gottesdienste stattfinden?
Die Corona-Krise macht viel mit uns, weckt Unsicherheiten und Ängste, verändert Gewohnheiten und Umstände seit nun beinahe einem Jahr. Kann das Erleben von Kunst unsere Sicht darauf ändern, ja sogar positiver machen? Kann Liedkunst heilsam sein?
Ja, findet Esther Borghorst: „Krankheit, Tod, jetzt Corona, das gehört in unser aller Leben. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle irgendwo in unserm Innern berührbar, ansprechbar sind. Geistliche und biblische Lieder, Bach oder Dvořák zum Beispiel bieten die Texte dazu, die uns auf unseren Wegen begleiten, uns unterstützen und unseren Ängsten und Sorgen Ausdruck verleihen. Ich möchte, dass die Menschen im Konzert etwas für sich mitnehmen, dass sie anders herausgehen, als sie reingekommen sind. Ich bringe ein, was mir geschenkt ist: meine Stimme.“
Währenddessen ergibt sich immer irgendwann ein Bogen, der mir so von vornherein oft nicht bewusst war. Manchmal kommen Lieder zu mir und werden mir zu eigen, ich spüre und höre mich, ich reflektiere und konzentriere mich.
An welchen Orten diese erklingt, ist für die Künstlerin ebenso wichtig. Den Raum begreift sie nämlich als eine Art sinnstiftendes Element, das genau wie die Stimme zum Dialog mit den Menschen beiträgt: „Der britische Komponist Stephen Harrap hat für mich vier Gedichte von der jüdischen Dichterin und Malerin Else Lasker-Schüler vertont. Diese Lieder im ‚Zentrum für verfolgte Künste‘ in Solingen zu singen, war deshalb so besonders, weil die dortigen Kunstwerke zusätzlich ihre eigene Geschichte erzählen. Das passt thematisch nicht nur zusammen, der Raum lässt dann auch eine bestimmte Energie fließen.“ Diese könne auf den Zuhörer übergehen, könne ihn wachrütteln, ihn bewegen, abholen und ankommen lassen, das entscheide jeder letztlich für sich.
Ihren persönlichen Dialog führt Borghorst vor allem durch die Liedauswahl, die sie trifft. „Währenddessen ergibt sich immer irgendwann ein Bogen, der mir so von vornherein oft nicht bewusst war. Manchmal kommen Lieder zu mir und werden mir zu eigen, ich spüre und höre mich, ich reflektiere und konzentriere mich“. Die Auseinandersetzung mit der Poesie und der Sprache sei dabei immer wieder überwältigend, so auch bei den Lasker-Schüler Texten, die ein besonderes Beispiel von warmer, barmherziger Sprache darstellten: „Es schneien weiße Rosen auf die Erde, warmer Schnee schmückt milde unsere Welt / Die weiß es, ob ich wieder lieben werde / Wenn Frühling sonnenseiden niederfällt.“ (Aus „Ein Lied an Gott“) „Die Kombination aus der Beschäftigung mit der ausdrucksstarken Poesie und mit der Dichterin als Mensch und der eigensinnigen Frau haben in der Zusammenstellung der Lieder zu einer inneren Debatte mit mir geführt.“ Wie Lasker-Schüler sei auch Borghorst selbst eine Suchende, eine manchmal auch Zweifelnde, oft in einem inneren Streit mit sich, ihrer Kunst und ihren Entscheidungen.
Ich weiß, dass Musik keine Therapie ersetzen kann. Sie kann aber ein Gefühl vermitteln, ein Gefühl von Wärme und Sicherheit
Warum die Liedkunst aber sogar heilsam sein kann, liegt für Esther Borghorst in der Tiefe unseres Daseins. In unseren Sehnsüchten und dem „Hunger nach Berührungen“. Sie singt wöchentlich mit psychisch kranken Menschen in einer gerontopsychiatrischen Tagesklinik. Auch hier sei die Erfahrung, dass das Singen den Menschen gut tut und sie in Fluss bringt, immer wieder deutlich spürbar. „Wir alle begehren das Schöne, wir sehnen uns nach Geborgenheit und Liebe. Ich weiß, dass Musik keine Therapie ersetzen kann. Sie kann aber ein Gefühl vermitteln, ein Gefühl von Wärme und Sicherheit.“
Die Corona-Krise sieht die Künstlerin als eine Zeit der Sehnsucht und der Stille. „Natürlich ist es zermürbend, wenn ich Konzerte vorbereite und sie dann doch wegen Corona wieder abgesagt werden. Das tut mir in dieser Zeit weh. Mir fehlt auch der Gesangsunterricht, den ich zusätzlich zu meiner Arbeit als Sängerin gebe. Das Teilen von Musik fällt weg und die Zuwendung zu den Menschen.“ Ihren Beruf hat die Altistin aber so in ihren Alltag integriert, dass selbst der Teil, der nicht musikalisch ist, ihre Art die Musik zu betrachten, widerspiegelt. Während des Lockdowns geht Esther Borghorst manchmal wandern, „ganz einfach und leise“, wie sie sagt. „Das Auge kann alles wahrnehmen. Ich konzentriere mich auf jeden Schritt und bin bei mir“.
Das Auge kann alles wahrnehmen. Ich konzentriere mich auf jeden Schritt und bin bei mir
Geschlossene Läden, weniger Kontakte; die Kunst kann die Welt nicht retten, aber vielleicht unsere Betrachtungsweise verändern. Der Beitrag der Kultur zur Bewältigung der Corona-Krise besteht möglicherweise darin, dass sie – um noch einmal zur Medizin zurückzukommen – das Immunsystem der Menschen im Umgang mit dem Virus stärkt. Wenn also alles um uns herum still steht, beginnen wir wieder mehr mit uns selbst zu reden und lassen uns abholen, zum Beispiel von John Dowlands „Time Stands Still“, das sich die Altistin für das Interview und im Hinblick auf die Corona-Krise ausgesucht hatte.
Time stands still with gazing on her face
Stands still and gaze for minutes
Houres and yeares, to give her place
All other things shall change
But shee ramaines the same
Till heavens changed have their course
And time hath lost his name.