“Musik ist hörbares miteinander.”
November 2017
Mit Michael Gees sprach Alice Lackner
Herr Gees, Sie beschäftigen sich viel mit extemporierter Musik. Damit sind Sie in der Klassik-Welt einer unter Wenigen. Weshalb ist das so? Warum scheuen sich die Leute vor Improvisation, und warum ist die klassische Musik so streng strukturiert?
Ich glaube, wir haben uns angewöhnt, unserer menschlichen Evolution zu misstrauen. Wir können uns unsere positive Wirksamkeit nicht vorstellen. Dabei erzeugt alles, was wir denken und tun, Resonanz, Zweckmäßiges und natürlich auch Unnützes. Es wirkt sich vielleicht nur homöopathisch aus, wenn ich meinen kleinen Finger krümme, aber es wirkt, auch in Bangladesch.
Wenn wir nun mit der Bequemlichkeit brechen, nichts bewirken zu können, dann sind wir auf einer Mission. Dann sind wir es, die – was auch immer – veranlasst haben und verantworten müssen. Stellten wir uns beispielsweise der ‘klassischen’ Musik auch als einer Herausforderung an unsere Phantasie, stünden wir plötzlich in schöpferischer Verantwortung, gleich den bewunderten Heroen der Klassik. Und das macht uns Angst. Es ist eigenartig, dass wir uns die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zutrauen, aber skeptisch bleiben in Bezug auf die Frage, ob wir die geistige Höhe Beethovens erreichen geschweige denn übertreffen könnten.
Wie funktioniert Improvisation bei Ihnen? Haben Sie ein gewisses Konzept, nach dem Sie improvisieren, oder ist es ein völlig freier Prozess?
Hätte ich ein Konzept, wär’s keine Improvisation. Andererseits gibt es für die gewissermaßen gebundenen Improvisationen meiner auf CD erschienenen Soloprogramme Vorbilder, wie etwa das ‘Cantare supra librum’, eine in der Renaissance gebräuchliche Praxis des ‘Singens über dem Buch‘. Dabei wurden die Nebenstimmen zu einem gegebenen Cantus firmus spontan hinzuerfunden. Die Sänger anverwandelten sich auf diese Weise an das, was sie sangen, sie machten es zu ihrer eigenen Sache. Und darum geht es mir ja auch: zu werden wie das, was ich spiele.
Da ist zunächst einmal nichts.
Völlig frei, zumindest zu Beginn, ist Improvisation, wenn niemand im Saal weiß, was jetzt klingen will. Und wenn wir zum wissenden Feld werden, eben weil wir nichts wissen. Wenn ich wähle, was ich hören will. Und die Mitwirkenden, die wir ganz fälschlich „Publikum“ nennen, fassen das Gehörte individuell auf. Wenn wir also die Improvisation gemeinsam entwickeln, aus Gegenseitigkeit und Verständnis. Wenn etwas entsteht, worauf niemand von uns allein gekommen wäre, was zuvor niemand hätte wissen können: das ist freie Improvisation.
In vielerlei Hinsicht ist kein Unterschied zum Komponieren: da ist zunächst einmal nichts. Und dann die Wahrnehmung, dass das Nichts nicht nichts ist. Sondern belebt ist, voller Tongestalten. Und, kaum, dass eine Idee über die Schwelle tritt, Gestalt annimmt und hörbar wird, es gleich wieder aus ist mit der „völligen“, ungebundenen Freiheit. Es ist sehr erstaunlich, was alles nicht mehr geht, nachdem die ersten Töne aufgeklungen sind. Wie die Idee zur Spielregel wird, nach der sich alles Weitere richtet. Wie beispielsweise ein Text so etwas wie eine Wegweisung ist. Wie durchaus nicht alles geht, wenn ich gemeinsam mit Kollegen einen Text vertone, ein Lied erfinde.
Wie kann man sich diese Weisung vorstellen, die ein Text Ihnen vorgibt?
Der Text weiß, wie er vorgetragen werden will. Jedes Gedicht hat seine Melodie, wie überhaupt alles Lebendige eine Musik hat. Gedanken pulsieren in die physische Welt hinein und resonieren als Musik. Umgekehrt resoniert Musik in der geistigen Welt als Gedanke. So können Wort und Musik synästhetisch wechselwirken. Liedkomponisten resonieren natürlich auf ihre eigene Art mit dem Text. Sonst wären ja alle Vertonungen einander gleich oder ähnlich. Aber völlig verschieden sind sie eben auch nicht. An textgleichen Vertonungen lässt sich gut studieren, wie die Musiken verschiedener Komponisten gewissermaßen im gleichen Zimmer, im gleichen geistigen Raum erklingen.
Nicht viele Pianisten setzen einen so großen Fokus in ihrem Schaffen auf das Lied, wie Sie es tun. Wie sind Sie zum Lied gekommen? Und was begeistert Sie an dieser musikalischen Gattung?
Meine beiden Eltern waren Sänger und meine große Liebe zu Studienzeiten war eine Sängerin. Fast alle meine Lieder sind ihr gewidmet. Zum Liedpianisten habe ich also viel natürliche Neigung. Das Geschick dazu, Sänger zu begleiten und sie so gut wie möglich aussehen zu lassen habe ich mir im Laufe der Jahre angeeignet. Aber vor allem bedeutet Lieder begleiten, in Musik denken, tönen und sprechen zu dürfen, das Wort geleiten auf seinem Weg zum Verständnis. Das fließt im Lied wunderbar zusammen. In der Oper wird die Textdichte eines Liedes ja nur ganz selten erreicht. Das Lied denkt. Und das gefällt mir. Dazu habe ich beizutragen.
Herr Gees, warum brauchen wir in dieser technologisierten und digitalisierten Welt heutzutage überhaupt noch Musik? Welchen gesellschaftlichen Beitrag leistet Musik?
Vor allen Dingen mal den, dass sie es ist, die – neben anderen Künsten – einen gesellschaftsbildenden Beitrag leistet; die Digitalisierung tut das ja eben gerade nicht. Musik ist nach meinem Verständnis geradezu ein Hörbild der Gemeinschaft, die Idee des Miteinanders schlechthin. Unisono, Heterophonie, Kontrapunkt, Harmonie und Dissonanz bis zu ihrer Auflösung ins weiße Rauschen: Musik ist die Harmonia Mundi, die Integration des Tönenden. Und Musik kann etwas Einzigartiges: Gleichzeitigkeit. Wenn wir gleichzeitig reden, verstehen wir einander nicht. Wenn wir gleichzeitig musizieren, können wir uns und andere als unterschiedlich beitragend erkennen und wahrnehmen, einander begegnen und in Beziehung gehen. Die Parallelität unseres Tuns stört uns nicht nur nicht sondern ist uns im Gegenteil geradezu ein Erkenntnisinstrument.
Musik wirkt in einem gemeinschaftsbildenden Konzert
Musik ist hörbares Miteinander. Musiker bilden zusammen mit dem „Publikum“ ein Stellvertreterfeld für das, was sie mit in den Raum nehmen und in Musik erleben. In der Fülle ihrer Beziehungen zueinander und zum Weltgeschehen sind sie Repräsentanten der Menschengemeinschaft. So wirkt ein in diesem Sinne gelungenes, nämlich gemeinschaftsbildendes Konzert weit über den Saal hinaus, in dem es stattfindet. Und wem das unbescheiden vorkommt: Anspruch und Wirkmächtigkeit der künstlichen Intelligenz sind kaum geringer. Allzu klein dürfen wir von uns nicht denken, wenn wir’s mit ihr aufnehmen wollen.